Geschichten:Krähen, so weit das Auge reicht - Krähennest
Mark Vallusa, Creag Rían, Frühjahr 1041
Wenige Augenblicke später hatte sich gefräßige Stille um die Tafel mit den vier Halbgeschwistern und dem alten Efferd-Geweihten gelegt. Da knallte plötzlich etwas mit voller Wucht gegen eines der Fenster, die Scheibe zersprang in tausend Stücke, die einen Moment glitzernd und schillernd wie Schneeflocken, durch die Luft sausten, nur um dann klirrend zu Boden zu fallen. Mit einem dumpfen Schlag prallte etwas gegen die gegenüberliegende Wand.
„So ne Scheiße!“, brüllte Branwen zornig, warf ihr Besteck durch den ganzen Raum, wobei ihr Messer wenige Finger vor dem Efferd-Geweihten im Tisch stecken blieb – der Geweihte schien es noch nicht einmal bemerkt zu haben, „Kann man hier denn nicht auch ein einziges Mal in RUHE ESSEN?“ Dann sprang die Ritterin auf, warf ihren Stuhl dabei um und brüllte: „ZU DEN WAFFEN! ZU DEN WAFFEN! WIR WERDEN ANGEGRIFFEN! ZU DEN WAFFEN!“
Damit lief sie auf den Wehrgang hinauf. Sulwen kurz hinter ihr. Das Klirren von Waffen und Rüstungen hallte durch die Burg, dazwischen immer wieder unverständliche Rufe. Unruhe war ausgebrochen. Nur Tangwyn schien die Ruhe selbst. Erst stopfte der Knabe sich das letzte Stück seines Fisches in den Mund, nur um dann gemächlich aufzustehen an Sulwens Teller vorbeizugehen und sich eilig auch noch den Rest ihres Fisches in den Mund zu stecken und erklärte mit einem breiten Lächeln: „Ich wachs ja noch!“
Iorwen grinste: „Und Sulwen nicht. Verstehe.“
Da nickte der Knabe, legte seinen Zeigefinger an seine Lippen und eilte sich zu den anderen auf den umlaufenden Wehrgang hinauf.
„Keine Manieren!“, murrte der Efferd-Geweihte noch immer von dem Messer vor ihm im Tisch vollkommen unbeeindruckt, seinen Fisch hatte er noch nicht angerührt, „Das ist ganz allein deine Schuld!“
Iorwen guckte sich einen Augenblick etwas verdutzt um, konnte aber niemanden erkennen außer sich selbst und den Geweihten, weswegen sie ihn nun verwirrt anguckte: „Meine?“
„Ja, deine Schuld!“, wiederholte der Geweihte energisch, „Weib.“
Sie runzelte die Stirn und wiederholte: „Weib?“
„Mein Weib!“, erwiderte er und platzierte mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen seine rechte Hand auf ihrem linken Knie.
Iorwen schluckte schwer. „Nimm deine Hand da weg, Vadder! Ich warne dich!“
Da grinste der Geweihte sie nur frech an: „Ich erinnere mich noch genau, wie du das auch gestern gesagt hast. Und dann...“ Er legte seinen Kopf leicht schräg und fixierte sie. „... dann konntest du wieder einmal nicht genug von mir bekommen. Oh, meine Liebe, du warst einfach UN-ER-SÄTT-LICH!“
Erneut schluckte sie: „Ich habe dir gerade eben gesagt, dass du das lassen sollst! Ich warne dich zum letzten mal, alter Mann!“
„So wie du mich damals gewarnt hast?“, säuselte er lieblich, „Als wir zusammen unsere Älteste gemacht haben? Oh, wie du dich zuerst gesträubt hast. Wolltest mich gar nicht ran lassen. Aber dann... dann ging das die ganze Nacht. Immer wieder und wieder und...“
Iorwen verspürte nicht nur leichte Beklemmung sondern auch einen aufkommenden Würgereiz und spürte auch, wie langsam der Zorn in ihr aufstieg.
„Ich sage es dir zum allerletzten Mal!“, wurde sie nun sehr energisch, „Lass mich in Ruhe!“
„Und weißt du...“, fuhr er seelenruhig fort. Der Schalk glitzerte in seinen Augen. „... es war der Tag des Wassers. Deswegen ist sie so...“
Da legte Iorwen ihre Hände auf seine Schultern und blickte ihm tief in die Augen. Einen Wimpernschlag verharrte sie so und blickte ihm noch tiefer in die Augen, bis auf den Grund seiner Seele hinab. Bis tief in seine Seele hinab.
„DU WIRST MIR NIE WIEDER NACHSTELLEN!“
Schlagartig verlor der Geweihte jegliches Interesse an ihr und wandte sich endlich dem Fisch auf seinem Teller zu: „Schon wieder Fisch?“
„JA, VADDER“, antwortet Iorwen sanftmütig, „DU BIST EFFERD-GEWEIHTER, DU LIEBST FISCH!“
„Ja?“
Zunehmend kehrte Ruhe in die Burg ein. Eine unheimliche Ruhe.
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„Wie hast du das gemacht?“, fragte Branwen als sie zusammen mit Sulwen und Tangwyn wieder die große Halle betrat.
Fragend schaute Iorwen sie an: „Was... ähm... meinst du?“
„Na ja, er isst“, dabei nickte sie in die Richtung des Efferd-Geweihten.
„Nun“, hob sie da lächelnd an, „Wir hatten eine nette kleine Unterhaltung und ich habe ihm gut zugeredet. Das war alles.“
„Na, wenn das alles war, übernimmst du diese Aufgabe ab jetzt öfter...“
„Öfter heißt wohl für immer, was?“, schmunzelte Iorwen, „Und ihr, ihr seid ja schon zurück?“
„War nichts zu sehen“, erwiderte Tangwyn schulterzuckend, „Gar nichts. Überhaupt nichts.“
„Und das soll was heißen!“, pflichtete ihm die Ritterin bei, „Was unser Turmfalke nicht sieht, ist auch nicht da. Der ist so groß, der kann sogar auf Rohajas Teller gucken...“ Geradezu liebevoll wuschelte sie ihm durch sein dunkelblondes Haar.
„Lass das, Frau Mutter!“, fauchte der Knabe da ungehalten und versuchte augenblicklich sein Haar wieder zu ordnen, „Ich mag das nicht, du bringst alles nur durcheinander...“
„Und wie süß er ist, wenn er zornig wird. Jetzt fehlt nur noch, dass er mit seinen kleinen Füßchen aufstampf...“
Währenddessen schaute sich Sulwen genauer an, was da eigentlich in die große Halle geflogen war. Etwas angewidert zog sie es mit zwei Fingern ihrer rechten Hand empor um es ihren Geschwistern zu zeigen. „Ja, sind die denn des Wahnsinns!“, entfuhr es ihr vollkommen fassungslos, „Jetzt schießen die schon mit Vögeln auf uns...“
Und in der Tat, erkannte man bei dem zerknautschten Bündel aus Fleisch, gebrochenen Knochen und Blut noch weiße Federn.
Iorwen kam näher, betrachtete das Etwas und fragte verwirrt: „Wer sind denn DIE?“
„Schmuggler, Piraten, Hummerier, Krakonier und anderes charyptorotisches Zeug“, erwiderte Sulwen schulterzuckend, „Ich habe auch schon von Dämonenarchen gehört...“
„Dämonen... archen?“, fragte Iorwen entsetzt.
„Ja, aber gesehen habe ich noch keine. Ist wohl doch nur ein Gerücht.“
„Ein Gerücht?“
„Also etwas, dass man sich erzählt, aber bei dem niemand weiß ob...“
„Ich weiß, was ein Gerücht ist!“
„Und warum fragst du d...?“
Im selben Augenblick flog erneut etwas durch das bereits zerbrochene Fester und schlug mit einem dumpfen Knall knapp neben Sulwen gegen die Wand, wobei ein großer blutiger Fleck blieb. Mit einem schmatzenden Geräusch fiel es zu Boden.
„Eine Schneeeule“, stellte Iorwen mit einem Blick fest.
„Tja, jetzt ist sie nur noch ein blutiger Klumpen mit einigen weißen Federn...“, kommentiert Sulwen schulterzuckend.
„Er“, korrigierte die Sumpfohreule, „Sieht dir sein weißes Gefieder an! So ein weißes Gefieder haben nur Männchen.“
„War das andere...“, hob der Knabe da an und deutete auf das zermatschtere Bündel, „... auch eine Schneeeule? Ein Weibchen vielleicht?“
Nun guckten die drei Schwestern ihn alle gleich verdutzt an.
„Weil...“, fuhr er fort, „... weil im Dach ein Schneeeulenpaar brütet.“
„Oh, wie süß!“, quietschte Sulwen plötzlich und alle Anwesenden zuckten zusammen, mit Ausnahme des Efferd-Geweihten, „Das heißt es gibt kleine Schneeeulen-Kinder?“
„Die heißen Küken, Seemöwe“, erwiderte der Knabe augenrollend, „KÜKEN.“
„Kleine, süße Schneeeulen-Kinder?“
„Ja, kleine, süße Schneeulen-KÜKEN.“