Geschichten:Krähen, so weit das Auge reicht - Tobrische See
Mark Vallusa, einige Meilen nach der Mündung der Linnhe in die Tobrische See, Frühjahr 1041
Das kleine Segelboot schwankte bedrohlich auf den Wellen. Es schwankte hin und schwankte her, jedes Mal wenn sich die Tobrische See mit aller Macht dagegen warf. Und die Passagiere schwankten mit.
„Ich will sterben!“, jammerte die junge Frau mit der dunkelblonden Mähne, während sie sich verzweifelt an der Reling festklammerte. Ihr Gesicht kreidebleich. Die andere Frau stand auf. Eine erneute Welle erfasste das Boot. Geübt hielt sie das Gleichgewicht und warf ihre Angel aus.
„Hab ich dir eigentlich nicht gesagt, dass du dir diesen... hm... Bartflaum – nicht das diese Paar einzelnen Härchen an deiner Oberlippe diesen Namen wirklich verdient hätten – abrasieren sollst?“, damit setzte sie sich wieder, wobei ihr Blick immer auf die See gerichtet war.
„Einfach nur sterben!“, fuhr die andere Frau fort, „STERBEN!“
„Ja, Frau Mutter“, frotzelte der Halbstarke mit einem kecken Lächeln auf den Lippen. Der Knabe war annähernd 2 Schritt groß und außerordentlich schlaksig. Das mittellange dunkelblonde Haar fiel ihm in dicken Strähnen ins Gesicht, in dem dunkelgrüne Augen funkelten.
„Frau Mutter“, spottete die junge Frau. Dann wurde das Boot von einer erneuten Welle erfasst und sie fuhr fort: „Oh ihr Götter! Warum quält ihr mich so? Könnt ihr mich nicht einfach sterben lassen? STERBEN?“
„Und?“, wollte die Frau an der Angel wissen, „Was ist dir dieses Mal dazwischen gekommen?“
„Och“, erwiderte der Knabe mit tiefer Stimme, „Ich wollte mich gerade rasieren, da...“
„Lasst mich sterben! Einfach nur sterben“, rief die junge Frau flehend dazwischen, „Werft mich einfach über Bord, den Rest erledigt die See, dann ist es endlich vorb...“
„Sulwen!“, hob die andere an, „Halt jetzt endlich den Rand! Du verschreckst die ganzen Fische und was sollen wir dann heute Abend essen?“
Wie zur Bestätigung ihrer Worte knurrte der Magen des Knaben ohrenbetäubend laut.
„Ich wachse eben noch“, erklärte er schulterzuckend.
„Hast dir wohl vorgenommen ein Turm zu werden, was?“
„Na ja, irgendein Ziel muss man ja haben“, kam umgehend eine kecke Erwiderung.
Erneut erfasste eine Welle das kleine Segelboot und schüttelte alle drei kräftig durch. Das war nun endgültig zu viel für Sulwen: Ihr kreidebleiches Gesicht bekam erst ein leicht grünliche Färbung, dann streckte sie ihren Kopf über die Reling und kotze sich die Seele aus dem Leib. Der Knabe reagierte blitzschnell und hielt ihr ihre wallende Mähne aus dem Gesicht.
„Und so was will Albernierin sein!“, die Frau an der Angel schüttelte den Kopf.
„Tobrierin“, Sulwen rang um Atem, „Tob-ri-er-in!“
„Vielleicht schlingst du das nächste mal beim Frühmahl nicht so, dann erstickst du beim Kotzen nicht gleich, was meinst du?“
„Schnauze, Branwen!“, keuchte die Angesprochene, „Halt einfach die Schnauze!“
„Ich dachte wir wollten Fische fangen und nicht füttern“, trat der Knabe nach.
„Ich schaller dir gleich eine, Tangwyn!“, drohte Sulwen da.
„So lange du kotzend über der Reling hängst und ich dir deine Haare halte?“, wollte Tangwyn wissen und zog fragend die Augenbrauen nach oben. „Ja...“
„Hast du dir denn einen Hocker mitgebracht, kleine Schwester?“, spielte der Knabe auf den Größenunterschied von einem halben Schritt zwischen Sulwen und ihm an. Branwen lachte. Eine weitere Welle erfasste das Boot und Sulwen begann erneut damit, den Rest ihres Frühmals von sich zugeben. Tangwyn hielt ihr noch immer ihre Mähne aus dem Gesicht.
„Von welchen Hockern redest du?“, wollte Branwen wissen, „Im ganzen Krähennest findet sich keiner mehr...“
„Och, weißt du, das ist eine echt komische Geschichte“, führte der Knabe weiter aus, „Die du mir vermutlich nicht glauben wirst.“
„Ich würde es auf einen Versuch ankommen lassen“, meine Barnwen verschmitzt, „Also?“
„Na ja, also das war so: Ich wollte mich gerade rasieren, da kam ein Schwarm Eulen...“
„Ich kann das nicht mehr. Ich halt das nicht mehr aus!“, jammerte Sulwen, „Werft mich bitte einfach über Bord. Werft mich über Bord! Den Rest… den Rest erledigt die See.“
„Und – lass mich raten – die sind durch das offene Fenster ins Krähennest geflogen, ein jede von ihnen hat sich einen Hocker gekrallt, du hast natürlich versucht, todesmutig wie du bist, sie davon abzuhalten, deswegen hast du es auch nicht geschafft, dich zu rasieren, aber die Eulen war so zahlreich und so schnell, haben die Hocker zu deinem Fenster aus der Burg geworfen und waren dann wieder genauso schnell weg wie sie gekommen waren.“
„Genauso war es!“, bestätigte er energisch nickend, „Als wärst du dabei gewesen!“
„Hat denn keiner von euch Mitleid?“, fuhr Sulwen fort, „Branwen? Tangwyn?“
„Oh! Ich glaube, die Fische beißen“, meinte Branwen da plötzlich, „Da hat was angebissen!“
„Erst anfüttern, dann fangen – ist doch klar“, mischte sich Tangwyn ein, „Weiß doch jedes Kind!“
„Ich will nach Hause“, jammerte Sulwen erschöpft, „Wie lange noch, bis wir nach Hause können? Es dauert doch nicht mehr lange, ja?“
„Ach, das dauert noch“, winkte Branwen ab, „Wir müssen auf die Flut warten...“
„Du kannst also noch ein bisschen Fische füttern“, frotzelte der Knabe, „Ich halt dir auch deine Haare.“